Zivilgesellschaft unter Druck
Was ist das, der Shrinking Civic Space?
Der zivilgesellschaftliche Handlungsraum, also der Gesellschaftsbereich zwischen Staat, Wirtschaft und familiärer Privatheit, in dem sich Bürger*innen in freiwilligen, kollektiven Aktionen und Organisationen ohne Gewinnabsichten engagieren, ist in vielen Ländern dieser Welt verstärkt Attacken ausgesetzt. Diese Attacken gehen von staatlichen Akteur*innen, aber auch Unternehmen aus und reichen von Rechtseinschränkungen, bürokratischer Gängelung bis hin zu physischer und psychischer Gewalt gegen Aktivist*innen. Nach einer Zeit des Wachstums und politischer Anerkennungsgewinne für zivilgesellschaftliche Organisationen (ZGO), insbesondere auch in den ehemaligen Ostblockstaaten oder Lateinamerika, zeichnet sich eine Gegenbewegung zur Delegitimierung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen ab. Die Debatte um diese Angriffe hat sich unter dem Anglizismus des Shrinking Civic Space (SCS) zu einem Diskurs verdichtet, der die gesellschaftliche Auseinandersetzung um den zivilgesellschaftlichen Handlungsraum problematisiert.
Als kennzeichnende Faktoren des SCS lassen sich die Beschneidungen von verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit und der Meinungsfreiheit durch repressive Polizeieinsätze, die öffentliche Stigmatisierung von ZGO, aber auch ihre zunehmende staatliche Überwachung festmachen. Handlungseinschränkungen ergeben sich zudem über die Kontrolle und die Einschränkung von Finanzierungen philanthropischer Aktivitäten, vor allem die der internationalen Geldgeber*innen und Spender*innen. Staatliche Regulierungsinitiativen, die mit hohen Rechenschaftsauflagen einhergehen, wirken dort einschränkend, wo sie missbräuchlich gegen regierungskritische Organisationen eingesetzt werden oder durch den unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand überfordernd wirken. Regulierungsmaßnahmen ziehen zudem oft Einschränkungen zweiter Ordnung nach sich, wenn Banken, die vor den hohen Hürden der Rechenschaftspflicht zurückschrecken, den Organisationen keine Kredite oder mehr zur Verfügung stellen oder dadurch Spender*innen und Firmen abgeschreckt werden (Hayes et al. 2017).
Gesetze, die zur staatlichen Kontrolle über ZGO mit dem Ziel ihrer Lenkung oder ihrer Zerschlagung eingeführt wurden, werden als Anti-NGO-Gesetze bezeichnet. Bekannte Beispiele dafür sind die ‚Foreign-Agent Gesetze‘ in Russland oder das ‚Gesetz zur Arbeit von gemeinnützig tätigen Assoziationen‘ in Ägypten.
Die Debatte SCS in Deutschland und der Europäischen Union
Zunächst wurden die Repressionsmaßnahmen als ein Problem von Autokratien und defekten Demokratien gesehen, es werden jedoch auch zunehmend Probleme aus der Europäischen Union gemeldet. Insbesondere Ungarn, Slowenien und Polen gehen hier mit abschreckenden Beispielen voran und führten Rechtsvorschriften und öffentliche Maßnahmen zur Kontrolle und Zensur der Zivilgesellschaft ein. Sie beschränken den Zugang von Nichtregierungsorganisationen zu Finanzmitteln und richten sich insbesondere gegen Aktivist*innen und Engagement, das sich für den Schutz der Rechte von Frauen, LGBTIQ+-Personen, Minderheiten, Migrant*innen und Geflüchteten einsetzt. Aber auch in Frankreich, Spanien, den Niederlanden, oder – bis vor kurzem noch EU – dem vereinigten Königreich wurden in den letzten Jahren Gesetze erlassen, die das zivilgesellschaftliche Handeln einschränken, beispielsweise durch das sogenannte Knebel-Gesetz in Spanien, die Notstandgesetze in Frankreich oder das Gesetz gegen politische Einflussnahme vor Wahlen in England.
In Deutschland spiegelt sich die Debatte um den SCS insbesondere in zwei Aspekten. Zum einen gibt es eine Auseinandersetzung darüber, inwiefern die steuerlich begünstigte Gemeinnützigkeit mit politischem Engagement vereinbar sein darf und sollte. Im Zuge des Urteils vom Bundesfinanzhof (V R 14/20), das der globalisierungskritischen Organisation ATTAC die Gemeinnützigkeit entzog, sind viele ZGO verunsichert, inwiefern sie sich politisch äußern oder handeln dürfen, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, ihre Gemeinnützigkeit zu verlieren. Zum anderen sind auch in Deutschland Angriffe rechtspopulistischer und -extremistischer Akteur*innen auf Aktivist*innen der Zivilgesellschaft zu beobachten, insbesondre in den Bereichen der Geflüchtetenhilfe, des Gleichstellungs- und Minderheitenschutzes, aber auch zunehmend im Umwelt- und Kulturbereich. Beides schränkt die für eine Demokratie so wichtige Möglichkeit der Zivilgesellschaft ein, die politische Meinungsartikulation und Willensbildung ihrer Bürger*innen zu ermöglichen.
Forschungsliteratur
Auszüge
Anheier, Helmut K.; Lang, Markus; Toepler, Stefan (2019): Civil society in times of change: shrinking, changing and expanding spaces and the need for new regulatory approaches. In: Economics: The Open-Access, Open-Assessment E-Journal 13 (2019-8). DOI: 10.5018/economics-ejournal.ja.2019-8.
Ayvazyan, Karen (2019): The Shrinking Space of Civil Society. A Report on Trends, Responses, and the Role of Donors. Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft. Berlin (Opusculum, 128)
Carothers, Thomas; Brechenmacher, Saskia (2019): Defending Civic Space: Four Unresolved Questions. Carnegie endowment for international peace (OECD Development Matters). Online verfügbar unter https://carnegieendowment.org/2019/05/31/defending-civic- space-four-unresolved-questions-pub-79250
Hayes, Ben; Barat, Frank; Geuskens, Isabelle (2017): On „Shrinking Space“. A framing paper. Transnational Institute. Online verfügbar unter https://www.tni.org/files/publication- downloads/on_shrinking_space_2.pdf
Hummel, Siri (2020): Shrinking Spaces? Contested Spaces! Zum Paradox im zivilgesellschaftlichen Handlungsraum. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen Band 33: Heft 3 2020
Globales Monitoring
Es gibt einige Initiativen, die das weltweite ‚Befinden‘ der Zivilgesellschaft messen und beobachten:
Der oben gezeigte Civicus Monitor ist eine Initiative zur globalen, länderübergreifenden Beobachtung und Indexierung von Zivilgesellschaft, der die Länder in eine 5-stufigen Skala von offen bis geschlossen einteilt.
Der CSO Sustainability Index Explorer misst die Güte nationaler Zivilgesellschaften auf einer 7-stufigen Skala für einige Länder, insbesondere in den Regionen Osteuropa, Asien und Afrika.
Das Variablenbundle ‘Associational Space’ des Demokratieindices V-Dem zeigt den Grad der Autonomie von ZGO vom Staat und die Möglichkeit für Bürger*innen, ihre politischen und bürgerlichen Ziele frei und aktiv zu verfolgen.
https://www.v-dem.net/demspace